Irrtümer rund um Multiple Sklerose

Mit MS landet man im Rollstuhl oder MS macht berufsunfähig: Wir räumen auf mit verbreiteten Irrtümern rund um die MS.
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Irrtum Nr. 1: Bei MS spielen nur die Gene eine Rolle

Die genauen Ursachen der Multiplen Sklerose sind bis heute nicht bekannt. Wissenschaftler vermuten, dass Umwelteinflüsse und genetische Veranlagung im Zusammenspiel eine Fehlreaktion des Immunsystems auslösen.1

In der deutschen Bevölkerung liegt das Risiko, eine MS zu entwickeln, zwischen rund 0,17 und 0,29 Prozent.2 In Studien mit Zwillingen zeigte sich, dass ein eineiiger Zwilling eines MS-Betroffenen, der dieselben Gene besitzt, ein rund 25prozentiges Risiko trägt, ebenfalls von Multipler Sklerose betroffen zu sein.3

In Europa haben Kinder von MS-Betroffenen gegenüber Kindern von nicht betroffenen Eltern ein rund 20-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko. Allerdings ist das Erkrankungsrisiko bei Kindern von MS-Erkrankten mit 3 Prozent insgesamt niedrig.4 Daher ist Multiple Sklerose keine „reine“ Erbkrankheit. Sie ist vielmehr eine Erkrankung, die von Umweltfaktoren ausgelöst wird und Menschen betrifft, die eine genetisch bedingte Veranlagung für MS haben.

Irrtum Nr. 2: Wer MS hat, landet auf jeden Fall im Rollstuhl

Noch heute ist die Vorstellung verbreitet, MS würde zwangsläufig zu einem Leben im Rollstuhl führen. Diese These stammt noch aus einer Zeit, in der es keine immunmodulierenden Langzeit-Therapien gab. Denn moderne Langzeit- und Basistherapien können heute die Zahl der Schübe verringern und den Krankheitsverlauf bei MS langfristig verbessern.5

Eine Studie zeigte bereits 2016: 90 Prozent der Betroffenen, die eine Langzeit-Therapie machen, können auch 17 Jahre nach der Erstdiagnose noch ohne Hilfe gehen. Experten empfehlen daher, so früh wie möglich mit der Therapie zu beginnen. Denn eine konsequent durchgeführte Behandlung kann das Risiko von Beeinträchtigungen und Behinderungen senken und Betroffenen so auch langfristig ein aktives Leben mit Multipler Sklerose ermöglichen.

Irrtum Nr. 3: Eine spezielle Ernährung kann Multiple Sklerose heilen

Es kursieren verschiedene Ernährungsempfehlungen für MS-Betroffene, die eine Verbesserung von Krankheitsanzeichen oder sogar Heilung in Aussicht stellen. Solche Versprechen haben für viele Menschen mit MS etwas Verführerisches an sich.6

MS ist jedoch nicht durch eine bestimmte Ernährung bzw. Diät heilbar. Allerdings kann eine Mangel-, Über- oder Fehlernährung die neurologische Symptomatik verschlechtern.7 Mit einer ausgewogenen Ernährung können MS-Betroffene hingegen ihre Immunabwehr stärken – und auf diese Weise dazu beitragen, das Entzündungsgeschehen zu minimieren. Zu einer gesunden Ernährung gehören vor allem hochwertige Öle, Gemüse, Nüsse und Lebensmittel, die reich an Omega-3-Fettsäuren sind.8

Einige Untersuchungen weisen zudem darauf hin, dass sich eine bestimmte Ernährung positiv auf den Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose auswirken kann. So fanden Forscher z. B. heraus, dass kurzkettige Fettsäuren Entzündungsreaktionen unterdrücken können.9 Die Bildung solcher kurzkettigen Fettsäuren wird durch eine ballaststoffreiche Ernährung gefördert.

Irrtum Nr. 4: Sport ist bei MS verboten

Lange Zeit wurde MS-Betroffenen empfohlen, sich körperlich zu schonen – man nahm an, dass ihnen Sport und körperliche Belastung schaden würden. Eine Rolle spielte dabei wahrscheinlich das sogenannte Uhthoff-Phänomen: Es beschreibt den Umstand, dass MS-Symptome bei höheren Körpertemperaturen zunehmen können.

Heute weiß man, dass der gesundheitliche Nutzen von Sport bei Multiple Sklerose nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass sich Sport und Bewegung bei MS-Betroffenen auf vielfältige Weise positiv auswirken: Regelmäßiges Training hilft, die Muskelfunktion und das Gleichgewicht zu fördern. Bewegung und Dehnübungen können Schmerzen und Verkrampfungen lindern. Sport wirkt zudem Stress, Müdigkeit und Abgeschlagenheit entgegen, verbessert die geistige Leistungsfähigkeit, erhöht das Selbstwertgefühl und fördert so ganz nebenbei das allgemeine Wohlbefinden.10

Irrtum Nr. 5: Man kann mit MS keine Kinder bekommen

Kinderwunsch können sich Menschen mit MS mit ruhigem Gewissen erfüllen: Auch mit MS kann sich eine Familie gründen lassen. Denn die Erkrankung beeinträchtigt nicht die Fruchtbarkeit. Zudem haben die Kinder eines betroffenen Elternteils mit ca. 3 Prozent nur ein geringes Risiko, selbst an Multipler Sklerose zu erkranken.

Studien zeigen sogar, dass sich eine Schwangerschaft bei MS positiv auswirkt: Das Risiko für Schübe nimmt deutlich ab. Eine Ausnahme bilden die ersten drei Monate nach der Geburt, in denen das Schubrisiko ansteigt. Danach sinkt es wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück, das die Mutter vor der Schwangerschaft hatte.

Besprich deinen Kinderwunsch auf jeden Fall mit deiner Neurologin oder deinem Neurologen: Er wird deine Behandlung eventuell schon vor der Schwangerschaft anpassen, da bei vielen Therapien nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie dem ungeborenen Baby schaden. Es gibt auch MS-Medikamente, die du ohne ein erhöhtes Risiko bis zum Eintritt der Schwangerschaft einnehmen und dann absetzen kannst. In bestimmten Fällen ist es sogar möglich, die Therapie nach einer Nutzen-Risiko-Abwägung auch während der Schwangerschaft weiterzuführen.11,12 Weitere Informationen findest Du hier.

Das deutschsprachige Multiple Sklerose und Kinderwunsch Register (DMSKW) dokumentiert Schwangerschaften und Kinderwunsch-Behandlungen von MS-Betroffenen. Interessierte finden das DMSKW unter www.ms-und-kinderwunsch.de.

Irrtum Nr. 6: MS macht berufsunfähig

Nach der Diagnose stellen sich viele MS-Betroffene die Fragen: Wie geht es jetzt mit meiner Arbeitsstelle weiter? Kann ich trotz MS in meinem Beruf bleiben? Da Multiple Sklerose bei jedem Menschen unterschiedlich verläuft, sind auch die Einschränkungen im beruflichen Alltag unterschiedlich stark. Moderne Langzeit-Therapien verbessern inzwischen auch die berufliche Situation von Menschen mit MS: Viele Betroffene arbeiten noch Jahrzehnte nach ihrer Diagnose in ihrem erlernten Beruf.13,14

Allgemein gilt: Angestellte sind nicht dazu verpflichtet, ihren Arbeitgeber über die Erkrankung zu informieren. Sie dürfen die MS in der Regel auch verschweigen, wenn sie sich um eine neue Stelle bewerben – es sei denn, ihre krankheitsbedingte Einschränkung oder Behinderung könnte den Betriebsablauf einschränken oder für Dritte gefährden.15

Leidest du unter MS-bedingten körperlichen Einschränkungen? Mögliche Lösungen können Teilzeitarbeit und zusätzliche Pausen sein. Auch Homeoffice kann den Berufsalltag manchmal erleichtern. Versuche zusammen mit deinem Arbeitgeber, dein Tätigkeitsfeld deinem persönlichen Leistungsvermögen anzupassen, um möglichst lange berufstätig bleiben zu können. Der soziale Kontakt und die Anerkennung für deine beruflichen Leistungen geben oft Selbstvertrauen und die Kraft, sich der MS zu stellen.

Irrtum Nr. 7: MS geht mit Muskelschwund einher

MS wird oft mit Muskelschwund gleichgesetzt, auch aufgrund der Abkürzung MS für Multiple Sklerose. Doch dies trifft nicht zu, denn Multiple Sklerose und Muskelschwund (Muskelatrophie) sind unterschiedliche Erkrankungen.

Bei MS greift der Körper Nervenfasern im zentralen Nervensystem an. Es entstehen Entzündungen und schließlich Vernarbungen in Gehirn und Rückenmark, so dass Nervensignale nicht mehr ausreichend weitergeleitet werden können. Die Muskulatur der MS-Betroffenen ist jedoch in der Regel gesund, sie kann nur nicht mehr richtig gesteuert werden. Bei den rund 800 Formen des Muskelschwunds hingegen ist oft der Muskel selbst erkrankt oder die Zellen, die die Nerven versorgen, sterben ab.

Bei manchen MS-Betroffenen lassen sich dennoch Rückbildungen der Muskulatur feststellen. Denn aufgrund der Bewegungseinschränkungen von MS-Betroffenen werden die Muskeln nicht ausreichend trainiert. In einigen Fällen können diese rückgebildeten Muskeln – anders als bei Muskelschwund – durch Krankengymnastik wiederaufgebaut werden.16,17,18

Irrtum Nr. 8: MS macht sich nur durch Schübe bemerkbar

In der Medizin versteht man unter einem Schub eine Verschlechterung des Krankheitsbildes. Bei Multiple Sklerose bedeutet dies, dass innerhalb von Stunden oder Tagen mehrere (=multiple) Entzündungsherde in Rückenmark und Gehirn auftreten und Krankheitsanzeichen hervorrufen. Nach dem Schub klingen die Symptome ganz oder teilweise wieder ab.

Schübe sind jedoch nur die „Spitze des Eisberges“: Die Krankheit schreitet im Verborgenen auch zwischen den Schüben weiter fort, da sich im zentralen Nervensystem weiterhin diffuse, chronische Entzündungen befinden. Diese machen den Großteil des Entzündungsgeschehens aus, nicht die Schübe.

Viele MS-Betroffene bemerken die schleichende, geringe Zunahme von Symptomen jedoch nicht oder ordnen sie nicht der MS zu. Bleiben Schübe für längere Zeit aus, nehmen dies manche Erkrankte als Anlass, ihre Langzeit-Therapie abzubrechen. Damit vergeben sie jedoch die Chance, den Krankheitsverlauf der MS langfristig zu verlangsamen und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Schließlich gibt es eine MS-Form, die kontinuierlich und ohne Schübe voranschreitet: Die primär-progrediente MS (PPMS). Bei dieser Verlaufsform nehmen die Anzeichen stetig zu, ohne sich jemals zurückzubilden. Die PPMS tritt bei 10-15 Prozent aller Betroffenen auf.19

Irrtum Nr. 9: Manche MS-Symptome lassen sich mit Willenskraft bewältigen

Starke Erschöpfung und Abgeschlagenheit – so manche Krankheitsanzeichen ordnen Angehörige oder Freunde von MS-Betroffenen nicht der Multiplen Sklerose zu. „Reiß Dich doch mal ein bisschen zusammen!“ lautet ein häufiger Appell an MS-Erkrankte. Dabei belasten „unsichtbare“ Anzeichen wie z. B. die sogenannte Fatigue Betroffene oft besonders: Sie sind nicht nur müde, sondern schon nach geringer Anstrengung oft so erschöpft, dass sie Alltag und Beruf nicht mehr bewältigen können.

Doch mit Willenskraft lassen sich diese Symptome nicht bewältigen, da sie organisch bedingt sind: Ursache der extremen Mattigkeit bei MS-bedingter Fatigue sind chronische Entzündungen im zentralen Nervensystem. Der langfristige Verlauf der MS – und damit die Fatigue-Symptome – lassen sich nur durch eine Langzeit- bzw. Basistherapie abmildern.

Dennoch kann eine stabile seelische Verfassung den Umgang mit MS unterstützen. Bei seelischen Beschwerden kann zum Beispiel eine Psychotherapie Betroffenen helfen, ihr Leben mit allen Einschränkungen aktiv zu gestalten und selbstbewusst mit möglichen Konfrontationen des sozialen Umfelds umzugehen.20

Irrtum Nr. 10: MS hat immer den gleichen Verlauf

Auch heute noch gehen manche Menschen davon aus, dass Multiple Sklerose einen bestimmten, vorhersehbaren Verlauf hat. Doch die Realität sieht anders aus: Während der eine MS-Betroffene noch viele Jahre nach der Diagnose regelmäßig joggen gehen kann, ist für den anderen schon bald der Weg zum Laden um die Ecke ein Kraftaufwand.

Aufgrund der unterschiedlichen Symptome und Verläufe wird Multiple Sklerose auch als „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ bezeichnet. Die Krankheitsanzeichen hängen auch davon ab, welche Bereiche des zentralen Nervensystems betroffen sind.

Zu Beginn der Erkrankung ist der Verlauf kaum vorhersehbar. Grundsätzlich unterscheiden Mediziner jedoch drei Verlaufsformen: schubförmig, sekundär-progredient und primär-progredient. Bei den meisten Betroffenen verläuft die MS schubförmig. Es kann jedoch auch sein, dass die Schübe irgendwann völlig ausbleiben, während sich die Symptome schleichend weiter verschlechtern. Dann spricht man von einem sekundär-progredienten Verlauf. Bei rund 10-15 Prozent der Betroffenen verschlechtern sich die Symptome von Anfang an kontinuierlich und ohne Schübe. Dieser Verlauf ist primär-progredient.21


Referenzen:

  1. https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/erkrankungen/multiple-sklerose-ms/ursachen (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  2. https://doi.org/10.1007/978-3-662-49204-8_2 (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  3. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/ms-studie-unter-eineiigen-zwillingen/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  4. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-ms-sei-vererbbar/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  5. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-multiple-sklerose-heisse-automatisch-rollstuhl/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  6. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-ms-liesse-sich-durch-diaet-heilen/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  7. https://doi.org/10.1007/s00115-004-1783-7, (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  8. Ebd.
  9. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111128/Ernaehrung-koennte-den-Verlauf-einer-Multiplen-Sklerose-beeinflussen (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  10. https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/ms-und-sport/einfuehrung/der-zusammenhang-zwischen-ms-und-sport/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  11. https://www.familienplanung.de/schwangerschaft/beschwerden-und-krankheiten/schwanger-mit-einer-chronischen-erkrankung/multiple-sklerose/#c65227 (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  12. https://www.ms-und-kinderwunsch.de/allgemeine-informationen.html (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  13. https://www.dmsg-koeln.de/ms-und-arbeit.aspx (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  14. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-mit-ms-koenne-man-bald-nicht-mehr-arbeiten/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  15. https://www.haufe.de/arbeitsschutz/recht-politik/chronisch-krank-und-berufstaetig_92_129392.html (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  16. https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/was-ist-ms/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  17. https://flexikon.doccheck.com/de/Multiple_Sklerose (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  18. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-ms-stehe-fuer-muskelschwund/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  19. https://www.netdoktor.de/krankheiten/multiple-sklerose/verlauf/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  20. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-multiple-sklerose-sei-willenssache/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)
  21. https://www.amsel.de/multiple-sklerose-news/medizin/irrtum-jede-ms-sei-gleich/ (Zuletzt abgerufen am 28.01.2022)